Arme Jungs?
„Kleine Kerle in Not“, „Arme Jungs“ oder „Böse Buben – Kranke Knaben“ - so titelten namhafte deutsche Zeitungen nach der ersten Erhebung der PISA-Studie im Jahr 2000. Sind Jungen wirklich die neuen Bildungsverlierer? Im Durchschnitt haben sie tatsächlich Probleme im Bildungssystem: So besuchen mehr Jungen als Mädchen Haupt- und Förderschulen, bei Gymnasien ist es umgekehrt. Jungen wiederholen häufiger eine Klassenstufe und der männliche 15-Jährige kann im Durchschnitt weit schlechter lesen als ein gleichaltriges Mädchen.
Aber: Jungen sind auch selbstbewusster und durchsetzungsfähiger, entwickeln durch mehr Freiheiten und Bewegungsorientierung ein besseres räumliches Vorstellungsvermögen, können sich besser gegenüber den Erwartungen Erwachsener abgrenzen und lenken ihre Aggressionen nach außen, anstatt sie mittels Selbstverletzungen und Essstörungen gegen sich selbst zu richten. Noten sind für sie bei dem Schritt ins Berufsleben nicht so entscheidend wie für Mädchen, sie wählen besser vergütete Berufe und verdienen langfristig selbst in gleicher Position mehr.
„Den“ Jungen gibt es nicht
Die Schulleistungsstudien der letzten Jahre haben ergeben, dass die Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen deutlich niedriger sind als die innerhalb einer Geschlechtergruppe. Entscheidend für Vor- und Nachteile im Bildungssystem ist die soziale Herkunft – und hier hebt sich Deutschland negativ vom internationalen Durchschnitt ab. Auch ein Migrationshintergrund führt im Kompetenzerwerb fast ausschließlich über die soziale Klasse bzw. Schicht zu Nachteilen. Bei Jugendlichen mit Eltern gleicher Qualifikation und beruflicher Position ergeben sich nur leichte Nachteile, wenn in der Familie nicht Deutsch gesprochen wird. Das durchschnittlich schlechte Abschneiden von Jugendlichen mit Migrationshintergrund hängt also damit zusammen, dass Migrant/innen in Deutschland auch nach mehreren Generationen häufig in sozial nachteiligen Positionen zu finden sind. Die Studien geben keine Auskunft über eventuelle Nachteile bei der Notenvergabe – die oben beschriebene Chancengleichheit bezieht sich ausschließlich auf die fachlichen Fähigkeiten.
Ein differenzierter Blick auf die Studien zeigt außerdem, dass sich sowohl in der höchsten als auch in der niedrigsten Kompetenzstufe überdurchschnittlich viele Jungen finden lassen. Jungen mit hochqualifizierten Eltern haben keine Nachteile gegenüber Mädchen. Auch innerhalb der Schultypen reduzieren sich die Nachteile von Jungen im Lesen, während sich die Nachteile von Mädchen in Mathematik und Physik erhöhen. Mit anderen Worten: Gymnasiasten lesen fast so gut wie Gymnasiastinnen, Hauptschülerinnen lesen ähnlich schlecht wie Hauptschüler. Die Nachteile von Jungen liegen also nicht an einer schlechteren Förderung innerhalb der Schultypen, sondern hängen mit ihrer nachteiligen Verteilung im viergliedrigen deutschen Schulsystem (mit Förderschulen) zusammen. Diese ungünstige Verteilung wie auch die schlechten Leseergebnisse treffen in erster Linie Jungen aus benachteiligten sozialen Milieus.
Männlichkeit als Nachteil oder Ressource
Schulische Nachteile entstehen aus einem Mix von Männlichkeitsvorstellungen und geringen Erfolgsaussichten in der Schule und sind nicht zuletzt verursacht durch die dortigen Bewertungs- und Hierarchisierungskulturen. So stehen Jungen unter dem Druck, sich als „richtiger“ Junge zu verhalten, also cool, unabhängig und souverän zu sein. Fleiß und Sorgfalt in der Schule sind ebenso wenig mit diesen Männlichkeitsbildern vereinbar wie das Zeigen von Schwäche oder Unsicherheit. Letzteres setzt vertrauensvolle Kontakte voraus, die in Schulen kaum aufgebaut, zumindest aber durch hierarchisierende Notengebung erschwert werden. Erfolglosigkeit ist unter diesen Bedingungen für alle offensichtlich, jedoch kaum mit Männlichkeit zu vereinbaren.
Doch Männlichkeitsvorstellungen können je nach Erfolgsaussichten förderlich oder hinderlich wirken: Wenn sie auf geringe Erfolgsaussichten treffen, legen sie eine Abgrenzung und Abwertung eines Fachs oder der Schule an sich nahe, um so der Erfolglosigkeit die „Entmännlichungs“-Macht zu nehmen. Schulverweigerung und Blockadehaltung sind häufig die Folge. Treffen Männlichkeitsvorstellungen allerdings auf Erfolgsaussichten, stellen sie eine nicht zu verachtende Ressource dar: Das mit Männlichkeit häufig einhergehende höhere Selbstbewusstsein ermöglicht das Loslösen von vorgegebenen und das Experimentieren mit eigenen Lernwegen und damit ein tieferes Durchdringen vieler Lernstoffe. Männlichkeit ist in der Schule also gleichermaßen Nachteil und Ressource – abhängig von Erfolgsaussichten und Lernatmosphäre.
Geschlechterreflektierte Arbeit in der Schule
Was bedeutet dies für eine geschlechterreflektierte Arbeit in der Schule?
Erstens sind für eine verbesserte Chancengleichheit andere Lernkulturen notwendig: Wenn Lernen jenseits der großen Bühne des Frontalunterrichts stattfindet, wird es (nicht nur) für Jungen leichter, Unsicherheiten zuzugeben, da der Druck zur männlichen Inszenierung sinkt. Wenn Bewertung und darin Hierarchisierungen in den Hintergrund treten und das Lernen sich an individuellen Lernzuwächsen und weniger am Vergleich mit anderen orientiert, wird es auch weniger nötig sein, bei schlechteren Ergebnissen eine Verweigerungshaltung einzunehmen.
Zweitens ist eine kontinuierliche Auseinandersetzung darüber hilfreich, was es bedeutet, ein „richtiger“ Junge (oder ein „richtiges“ Mädchen) sein zu wollen. Kompetenzen und Eigenschaften, die dem einen oder dem anderen Geschlecht zugeschrieben werden, sollten für alle Kinder und Jugendlichen als Ressource entdeckbar sein – mit Untersützung der Lehrkräfte.
Seitens der Lehrkräfte ist eine kontinuierliche Reflexion eigener Geschlechtervorstellungen, die häufig ungewollt mit in den Unterricht getragen werden, ebenso wünschenswert wie die Anwendung neuer Lehrmethoden, die Entwicklung geeigneter Texte und Materialien und ein fehlerfreundlicher und wertschätzender Austausch untereinander. Dass dies unter den aktuellen Arbeitsbedingungen nur schwer leistbar ist, ist unbestritten. Dennoch können schon kleine Schritte, die aus einer reflektierenden Haltung kommen, etwas bewegen.