Männlichkeit als Orientierungssystem
Viele Schwierigkeiten von Jungen haben geschlechtsspezifische Ursachen, die ihren Kern in einer Orientierung an idealisierten und unerreichbaren Männlichkeitsbildern haben. Heute wird zunehmend wahrgenommen, dass Jungen nicht nur Probleme machen - etwa Konflikte mit Gewalt lösen - sondern auch eine Menge Probleme haben, beispielsweise mit schulischen Leistungsanforderungen, als Opfer von Gewalt oder durch die einengenden und oft gesundheitsschädigenden Anforderungen männlicher Identifizierung. Auch wenn die aktuellen Debatten um Jungen als Bildungsverlierer manchmal über das Ziel hinausschießen, geben sie doch neue Impulse, um einen genaueren Blick auf die geschlechtsspezifischen Hintergründe des Verhaltens von Jungen zu werfen.
Jeder Junge muss sich mit Männlichkeitsbildern auseinandersetzen und dabei seinen eigenen Weg zwischen noch immer wirkmächtigen traditionellen und sich verändernden und modernisierenden Männlichkeitsbildern finden. Männlichkeit kann insofern als Orientierungssystem verstanden werden, das für Jungen von hoher Bedeutung ist und dem sie sich kaum entziehen können. Dabei handelt es sich bei Männlichkeit keineswegs um eine „natürliche“ Ansammlung geschlechtsspezifischer oder gar -typischer Eigenschaften. Heute wird davon ausgegangen, dass Männlichkeit als Ergebnis sozialer Konstruktion zu verstehen ist und immer wieder neu hergestellt wird. Zu den wichtigsten Beiträgen für ein besseres Verständnis von Männlichkeit zählt das Konzept der „hegemonialen Männlichkeit“ (Connell). Danach orientieren sich Jungen und Männern an dominanten, „hegemonialen“ Männlichkeitsvorstellungen. Unterschiedliche Formen von Männlichkeit werden stark hierarchisiert, Abweichungen werden potentiell abgewertet oder sogar sanktioniert. Selbstbild und Wohlbefinden eines Jungen hängen eng mit der Position zusammen, die er in der Männlichkeitshierarchie erreichen kann oder zugewiesen bekommt.
Doing Masculinity
Männlichkeitskritische Perspektiven auf Jungen helfen, alltägliches „normales“ ebenso wie problematisches Verhalten von Jungen besser zu verstehen. So lassen sich auch aggressives Verhalten oder mit körperlicher Gewalt ausgetragene Konflikte zwischen Jungen als Einüben von Männlichkeit verstehen. Michael Meuser nennt diesen Prozess „doing masculinity“. Er zeigt überzeugend, wie in diesem Sinne Gewalt oftmals eine gesellschaftlich (und bislang vorwiegend für Jungen und Männer) keineswegs verpönte Form der Durchsetzung darstellt. Die „ernsthaften und aggressiven Spiele des Wettbewerbs“, wie z. B. im Sport oder auf dem Schulhof, werden häufig noch nicht im Kontext der Herstellung von Männlichkeit verstanden. Dabei werden hier entscheidende Dominanz- und Unterordnungsmuster eingeübt, bei gleichzeitiger Abgrenzung gegen alles, was als „weiblich“ und „schwul“ angesehen wird.
Den eigenen Weg finden
Geschlechterreflektierte Jungenarbeit unterstützt Jungen und männliche Jugendliche darin, traditionellen Männlichkeitsvorstellungen nicht länger entsprechen zu müssen, sondern eigene Wege zu suchen, wie sie als Junge oder Mann leben wollen. Damit fördert Jungenarbeit das Erleben von Unterschiedlichkeit, Abweichung und Differenz und unterstützt Jungen darin, auch als „weiblich“ oder „schwul“ konnotierte Eigenschaften und Interessen für sich positiv zu besetzen - im Gegensatz zu vielen männlich strukturierten peer groups, Medien und auch zu vielen Vätern. Angesichts des gesellschaftlichen Drucks, dem Jungen ausgesetzt sind, geht es darum, diese zu ermutigen, auch ihre nicht rollenerwartungskonformen Anteile zu leben und nicht mehr auf die Abwertung von Weiblichkeit oder Homosexualität angewiesen zu sein, um sich selbst als Junge oder Mann verorten zu können. Geschlechterreflektierte Jungenarbeit bietet viele Möglichkeiten, mit Jungen aktiv an der Erweiterung von Männlichkeitsbildern zu arbeiten.